40º Aniversário da Constituição da República Portuguesa
35 Dieter Grimm Selbst bei Änderungen ihrer Verfassungen besitzen die Mitgliedstaaten keine völlige Freiheit mehr. Dennwenn es möglich ist, dass bestehendeVerfassungsnormenwegenVerstoßes gegen europäisches Recht unanwendbar sind, dann gilt dasselbe für neu in die Verfassung eingefügte Bestimmungen. Kein Staat kann sich im Wege der Verfassungsänderung von seinenVerpflichtungen gegenüber der EU befreien. Keiner kann sich gegen die grundlegenden Werte der EU stellen. Nicht prinzipiell anders verhält es sich, wenn ein Mitgliedstaat der EU es unternimmt, eine gänzlich neue Verfassung in Kraft zu setzen. Selbst der nationale pouvoir constituant erhält seine völlige Freiheit nur zurück, wenn der Staat aus der EU austritt. Andererseits hat die EU bisher nicht das Recht erlangt, ihre Rechtsgrundlage selbst zu bestimmen. Diese besteht aus völkerrechtlichen Verträgen, die die Mitgliedstaaten übereinstimmend geschlossen haben. Die Verträge sind nicht etwa nur der Modus der Entstehung der Rechtsgrundlage. Sie bleibt vielmehr in der Verfügungsgewalt der Mitgliedstaaten. Zu einer Änderung bedarf es erneut des einhelligenVertragsschlusses zwischen ihnen. Sie sind, wie man sagt, die “Herren der Verträge”. Das bedeutet zugleich, dass die Mitgliedstaaten autonom darüber bestimmen, welche Hoheitsrechte sie der EU abtreten und wie diese sich bei ihrer Ausübung zu verhalten hat. Nicht kann die EU darüber entscheiden, welche Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten sie an sich ziehen will. Die Mitgliedstaaten verfügen über die Kompetenz-Kompetenz. Hinsichtlich ihrer Rechtsgrundlage ist die EU fremdbestimmt. Für die Bedeutung der nationalen Verfassungen hat der Umstand, dass die Rechtsgrundlage der EU nicht von dieser selbst, sondern von den Mitgliedstaaten bestimmt wird, erhebliches Gewicht. Er verleiht den mitgliedstaatlichen Verfassungen Einfluss auf das Primärrecht der EU. Denn die Mitgliedstaaten sind bei Vertragsschluss und Ratifikation an ihre Verfassungen gebunden. Zum einen können die Verfahrensvorschriften der nationalen Verfassungen Bedeutung für das Ergebnis gewinnen. So scheiterte der europäische Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden bei der Volksabstimmung, während die Parlamente dieser Staaten ihn vermutlich gebilligt hätten. Zum anderen können materielle Verfassungsbestimmungen Bedeutung gewinnen, wenn sie die Ratifikation von Verträgen verbieten, die ihnen entgegenstehen. Die nationalen Verfassungen bilden insofern einen Filter für das europäische Primärrecht. Allerdings kann die Filterwirkung nicht jegliche Abweichung von der nationalen Verfassung verhindern, die mit der Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch supranationale Einrichtungen wie die Europäische Union verbunden ist. Der Staat, der dies verlangte, würde sich zur Mitwirkung an supranationalen Einrichtungen unfähig machen. Wie das Bundesverfassungsgericht im Eurocontrol-Beschluss festgestellt hat, bewirkt jede Übertragung von Hoheitsrechten eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung und ist damit materiell eine Verfassungsänderung, ohne dass das dem Verfassungstext anzusehen wäre. In den nationalen Verfassungen steht daher vieles, was tatsächlich von europäischem Recht verdrängt ist. Ein zutreffendes Bild über die Verfassungslage eines Landes lässt sich nicht mehr allein aus der nationalen Verfassung gewinnen, sondern nur noch aus der Zusammenschau mit dem europäischen Recht. Was der Filter im Einzelnen durchlässt und zurückhält, hängt von den jeweiligen Bestimmungen der mitgliedstaatlichen Verfassungen ab, in Portugal also von den Artikeln 7, 8 und 15 der Verfassung. Die Funktion der nationalen Verfassungen als Filter für die Entstehung europäischen Primärrechts wird dort besonders deutlich, wo nationale Verfassungsgerichte
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